«Immer hat mich seine Traurigkeit erschreckt»
Rumäniens geköpfte Elite – drei exemplarische Beispiele aus der Zeit des Kommunismus
Andreas Saurer
Enteignungen, Deportationen und Schauprozesse: Die sozialistische Umgestaltung während und nach dem Zweiten Weltkrieg kennt zahllose Opfer – darunter auch die rumänischen Soziologen Petre V. Stefanuca, Anton Golopentia und Henri H. Stahl. Ihre Vergehen: Professionalität, politische Unbestechlichkeit und Faktentreue.
«Du kannst doch Russisch, weshalb antwortest du nicht?», fragt der sowjetische Richter in Chisinau, der Hauptstadt der frischgebackenen Moldawischen Sozialistischen Sowjetrepublik. Natürlich kann der Angeklagte Petre V. Stefanuca Russisch, aber er bedient sich im zwei Wochen dauernden Prozess standhaft seiner rumänischen Muttersprache. Am 13. April 1941 fällt das Urteil: Todesstrafe durch Erschiessen. Für das sowjetische Gericht ist erwiesen: Der 35-jährige Soziologe ist ein «Agent des rumänischen Imperialismus», «geprägt vom Faschismus» und also «gefährlich für die proletarische Gesellschaft». Zudem sei er ein «Antisemit», und sein wissenschaftliches Werk atme «konterrevolutionären Geist».

Petre Stefanuca
Am 28. Juni 1940 hatte die Sowjetunion das nach dem Ersten Weltkrieg Rumänien zugesprochene Bessarabien annektiert, exakt drei Tage nach Stefanucas Rückkehr nach Chisinau – er hatte eben ein Jahr Dienst in der rumänischen Uniform an der bulgarischen Grenze hinter sich. Wie überall, wo der Stalinismus in jenen Jahren Fuss fasste, prägten Verhaftungswellen, Deportationen und Verunsicherung die Anfangsphase der Sowjetherrschaft. Stefanuca wird am 10. Oktober 1940 verhaftet. Am 12. Juli 1942 stirbt er in einem Straflager für politische Häftlinge in der Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik Tatarstan – an «Ruhr», wie es offiziell heisst. Kurz zuvor war die Todesstrafe in eine zehnjährige Haftstrafe umgewandelt worden.
Schon im Juni 1941 – und damit nur gut zwei Monate nach dem Todesurteil gegen Stefanuca – hatte Rumänien im Windschatten und als Verbündeter des nationalsozialistischen Deutschland Bessarabien zurückerobert und von Hitler, sozusagen als Kriegsbeute, zusätzlich Transnistrien und die Nordbukowina bekommen. Rumäniens Ostgrenze verlief nun für rund drei Jahre sogar entlang des Bug.
FORSCHER AUS LEIDENSCHAFT
Warum hat die Sowjetunion Petre V. Stefanuca mit dem Tod bestraft? Er war Forscher und Rumäne und beides aus Leidenschaft. Nach seinem Soziologiestudium in Bukarest war er ab November 1934 Sekretär des neu gegründeten Rumänischen Sozialinstituts in Chisinau. 1938 wurde er dessen Leiter. Die Forschungstätigkeit erfolgte in enger Kooperation mit der Monographischen Schule des Bukarester Soziologieprofessors Dimitrie Gusti. Stefanucas zentrales Thema war die Erforschung des Zusammenlebens zwischen Rumänen, Russen, Ukrainern und den kleineren ethnischen Gruppen von Juden, Deutschen, Franzosen und Schweizern in den Dörfern Bessarabiens. Stefanuca hat sowohl die Folgen der Rumänisierung wie jene der Russifizierung untersucht und so unablässig gängige Klischees hinterfragt. Am Herzen lag ihm auch die Lage der rumänischen Minderheit zwischen Dnjestr und Bug in der Sowjetunion.
Nach dem Einmarsch der Sowjettruppen bekam Stefanuca im Juli 1940 eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter für moldawische Sprache und Literatur. Mit wissenschaftlichen Argumenten setzte er sich hartnäckig für den Erhalt der rumänischen Sprache im diametral veränderten politischen Kontext ein – und schaufelte sich so sein eigenes Grab. Die kyrillische Schrift, durch welche das «Moldawische» nun systematisch russifiziert werden musste, um es so vom Rumänischen und von der rumänischen Kultur zu kappen, hatte für ihn in seiner Heimat nichts verloren. Moldawisch und Rumänisch, so predigte er standhaft, sei nun einmal ein und dieselbe Sprache. Von dieser simplen Wahrheit wich er auch vor Gericht nicht ab – Aug in Aug mit dem eigenen Tod.
Als Petre V. Stefanuca im Juli 1942 im sowjetischen Gulag stirbt und die systematische Deportation der rumänischen Juden nach Transnistrien ihren Lauf nimmt, bereitet sich in der rumänischen Hauptstadt Bukarest der 33-jährige Soziologe Anton Golopentia mit einer Equipe gerade auf einen umfangreichen Einsatz in dem von Hitlers Truppen besetzten Reichskommissariat Ukraine vor. Ziel der im Auftrag von Militärdiktator Ion Antonescu und von dessen Gouverneur in Transnistrien, George Alexianu, durchgeführten Feldforschung ist die Erfassung und Quantifizierung der rumänischen Bevölkerung in den Dörfern jenseits der jetzt dem Bug entlang verlaufenden Grenze. Nach mehreren Verzögerungen waren die entsprechenden Bewilligungen der zivilen und militärischen Dienststellen der mit Rumänien verbündeten Reichsdeutschen gerade eingetroffen.
Golopentia hatte einige Jahre in Deutschland studiert und in Leipzig im November 1936 sein Doktorat in Sozialwissenschaften und Philosophie abgelegt. Zwei Monate davor hatte ihn dort Mircea Eliade besucht, wie man in den Erinnerungen des später zu Weltruhm gelangten Religionswissenschafters nachlesen kann:
«Anfang September fuhren wir nach Leipzig, wo ich Anton Golopentia traf. Er lieferte mir eine bewundernswerte Analyse der Stärken und Schwächen des Nationalsozialismus. Er sagte, wenn die Entwicklung ungestört so weiterlaufen würde, gäbe es in wenigen Jahren Krieg, und dann bliebe uns Rumänen nur noch die Frage, wie wir überwintern, wie wir diese neue Katastrophe überleben könnten.»

Anton Golopentia
Der Soziologe und Demograph Golopentia ist zwischen 1932 und 1948 publizistisch äusserst produktiv. Lange Jahre ist er enger Mitarbeiter von Professor Gusti. Als dieser 1932/33 für 15 Monate Unterrichtsminister in drei Regierungen der Nationalen Bauernpartei wird, folgt ihm Golopentia als Büroleiter. Später emanzipiert er sich von seinem Chef und Lehrer. Er will eigene Wege gehen und der Soziologie neue Aufgaben erschliessen.
Beim Macht- und Systemwechsel 1944 arbeitet Golopentia als Generalinspekteur beim Statistischen Institut. Am 10. August 1947 wird er als Nachfolger von Sabin Manuila zu dessen Direktor berufen. Der erzwungene Rücktritt erfolgt gut ein Jahr später, Anfang September 1948, weil er nicht Parteimitglied geworden war, weil er sich der Wissenschaft und nicht der Dogmatik verpflichtet fühlte und weil er sich deswegen in dieser heiklen politischen Umbruchphase zwischen alle Stühle gesetzt und die Erwartungen der neuen Herrscher enttäuscht hatte. Der Vater zweier Kinder ist fortan ohne Arbeit und festes Einkommen. Die damals neunjährige Tochter Sanda Golopentia erinnert sich fünfzig Jahre später an die schwierige Zeit nach der faktischen Entlassung und vor der Verhaftung. Ihr Vater habe in jener Phase, in der er aus dem normalen Leben verbannt worden war und in der er täglich mit dem daheim übrig gebliebenen Rest harten Brots in die Bibliothek gegangen sei, wie innerlich befreit gesagt: «Endlich habe ich Zeit, das zu schreiben und zu lesen, was ich will.»
Am 16. Januar 1950 wird Golopentia in der Bibliothek verhaftet. Abends um 23 Uhr läutet ein Fremder an der Wohnungstüre, durchsucht Golopentias Büro und nimmt «Beweismaterial» mit. Als sich Golopentias Frau, die Soziologin Stefania Cristescu, nach dem Verbleib ihres Mannes erkundigt, wird ihr kryptisch beschieden:
«Bei uns. Er muss uns Informationen über seine Freunde geben, und er wird nach Hause zurückkehren, je nachdem ob er eher zu diesen Freunden oder zu seiner Familie hält.»
Golopentias Leidensweg im Gefängnis hat begonnen. Erneut ist aus einem leidenschaftlichen Rumänen ein «Feind des Volkes» geworden – diesmal im eigenen Land. Im Prozess werden ihm «feindliche Aktivitäten in der UdSSR» vorgeworfen. Damit waren wohl die erwähnten Forschungsaufträge von 1942 jenseits des Bug gemeint. Ein anderer zentraler Vorwurf betraf Golopentias angeblich «Patrascanu-freundliche Aktivitäten und Haltung».
Lucretiu Patrascanu, ein Kommunist der ersten Stunde, war in der Phase der

Lucretiu Patrascanu
stufenweisen sozialistischen Umgestaltung von 1944 bis 1948 Justizminister und treibende Kraft hinter den rigorosen Säuberungen im Verwaltungsapparat. Im Februar 1948 fiel der Jurist seinerseits einer parteiinternen Säuberung zum Opfer. 1954 wurde er nach einem inszenierten Prozess als «anglo-amerikanischer Spion» zum Tode verurteilt und hingerichtet. Immer wieder wurde Golopentia in seinen Verhören nach seinem Verhältnis zu Patrascanu und nach dessen angeblichen Fluchtplänen befragt.
Dabei kannte Golopentia den KP-Intellektuellen nicht besonders gut. Im Juni 1944 und zwischen dem 23. und dem 26. August 1944 – just dem Zeitpunkt des sowjetischen Einmarsches und des Umsturzes in Rumänien, der den Übergang von der Monarchie zum Realsozialismus einleitete – war er mit ihm und anderen KP-Aktivisten zusammengetroffen. Golopentia engagierte sich dabei zwar für die politische Neuorientierung Rumäniens und arbeitete an der Redaktion diverser Papiere mit. Kategorisch aber lehnte er es ab, Mitglied der Kommunistischen Partei zu werden, wie er auch in der Folge diverse Angebote sowohl von den Kommunisten als auch von der Bauernpartei ausschlug – von Parteipolitik wollte er sich um jeden Preis fernhalten. In seiner Funktion als Direktor des Statistischen Instituts hatte er später Justizminister Patrascanu wiederholt mit dem von diesem gewünschten statistischen Material versorgt – Grund genug für die rumänische Justiz, aus Golopentia einen Kollaborateur zu machen.
Nach 18 Monaten Haft stirbt Anton Golopentia am 9. September 1951 – an «Tuberkulose», wie es offiziell heisst, und ohne dass es vorher zu einem Urteil gegen ihn gekommen wäre. Stefania Cristescu wusste vom Tag der Verhaftung an bis zur Aufforderung am 11. September 1951, die Leiche ihres Mannes zu identifizieren, absolut nichts über den Verbleib und das Schicksal ihres Mannes.
SPURENSUCHE
Erst in den letzten Jahren wird Golopentias Name und Werk in Rumänien wieder entdeckt. Dank dem bemerkenswerten Einsatz und der akribischen Spurensuche seiner Tochter, der in den USA lehrenden Soziologin Sanda Golopentia, liegt heute sein Gesamtwerk vor, vor allem aber das minuziöse Aktenprotokoll seiner Erniedrigung und Demütigung im Gefängnis. «Ultima Carte» (Letztes Buch) ist ein 870 Seiten starkes Dokument, das unter die Haut geht. Darin bezeichnen mehrere Mitarbeiter Golopentia in Verhörprotokollen als «apolitisch», einzig der Sachkompetenz und Wissenschaft fühle er sich verpflichtet, weshalb er durchaus «linke» wie «rechte» Mitarbeiter anstellen konnte.
Von Golopentias Schicksal haben in Rumänien und in der Welt im tiefsten Stalinismus nur ganz wenige erfahren – einer davon war Mircea Eliade, der damals in Frankreich lebte. Im Februar 1952 notierte er über Golopentia in sein Tagebuch:
«Er war der letzte, von dem ich gedacht hätte, dass er stirbt – so im Gefängnis. Ich erinnere mich an seine schreckliche Klarheit, seine Selbstbeherrschung und Traurigkeit. Cioran hat er einmal gesagt, dass er sich umgebracht hätte, wäre er nicht verheiratet. Er konnte nicht glauben, obwohl er sich in der Religion und der Religionssoziologie sehr gut auskannte. Immer hat mich seine Traurigkeit erschreckt. Er sprach wenig, konzentriert und bildhaft.»
DER ÜBERLEBENDE
Als Anton Golopentia im Gefängnis sitzt, hält sich sein langjähriger Berufskollege und Weggefährte Henri H. Stahl in Bukarest vorübergehend als technischer Zeichner und mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser. Stahl hatte seinem acht Jahre jüngeren Kollegen einst ein «ganz aussergewöhnliches Forschungstalent» attestiert. In seinen 1981 erschienenen Erinnerungen schildert «Ricu», wie ihn seine Freunde nannten, seine erste Begegnung mit Golopentia:
«Er war noch jung, schüchtern. Es zeigte sich aber schon, dass da noch etwas anderes war als ein Jurist: nämlich eine Leidenschaft für die Sozialwissenschaften, ein breites Wissen, ganz jenseits der Gesetzbücher, offen für sowohl philosophische wie historische und soziologische Probleme. Und er hatte das, was vielen fehlt: den bohrenden inneren Zweifel. Ich bin auch jetzt noch stolz, dass ich mir nach nur einem einzigen Gespräch seines Wertes sicher war.»
Um die Qualitäten seines Kollegen zu würdigen, genügen Stahl auch dreissig Jahre nach Golopentias Tod nur Superlative:
«Auch heute betrachte ich ihn als den am besten ausgerüsteten Soziologen, der an unseren monographischen Feldforschungen teilgenommen hat. Golopentia war eine Art Synthese von mehreren unter uns.»
Die Unterrichtsreform von 1948 hatte in Rumänien das Ende jeder Feldforschungstätigkeit eingeläutet. Der Stalinismus brauchte weder Soziologie noch Soziologen – ein ungeschminktes Erfassen der Wirklichkeit war nicht opportun. Stahl, der sich in der Zwischenkriegszeit als Austromarxist verstand, kehrte erst Jahre später und zunächst ganz sporadisch mit Beiträgen und Büchern ins öffentliche Bewusstsein zurück. Nach der Wiedereinführung des Soziologieunterrichts 1968 konnte er auch im Lehr- und Forschungsbetrieb wieder Fuss fassen. Zuvor hatte er als Mitarbeiter Unterschlupf im Institut für städtische Forschung und Planung gefunden. Voll rehabilitiert wurde Stahl aber erst 1990 mit der Aufnahme in die Rumänische Akademie – ein Jahr bevor er 90-jährig in Bukarest starb.
Einblick in Stahls Denken geben die Interviews, die der Klausenburger Soziologe Zoltán Rostas zwischen 1985 und 1987 mit Stahl in rein dokumentarischer Absicht geführt hat und die erst im Jahr 2000 publiziert wurden. Darin lässt er etwa keinen Zweifel an der starken Affinität des emigrierten Mircea Eliade sowie des im Land gebliebenen Philosophen Constantin Noica zu den Legionären der Eisernen Garde (dem Faschismus rumänischer Spielart) – zu einem Zeitpunkt, als dies noch keineswegs zum Allgemeingut gehörte.
Auf Rostas’ Frage, weshalb er diese Erinnerungen nicht publiziere, sagt Stahl:
«Wem käme es gelegen zu zeigen, dass Noica, Comarnescu und Eliade Legionäre waren? Dieses Wort hat gegenwärtig keine Konjunktur. Das geht nicht. Vielleicht später.»
Auch den rumänisch-französischen Philosophen Emile Cioran verschont er nicht:
«Mir hat Cioran nie gefallen, obwohl ich zugeben muss, dass er sehr gut schreibt. Nur hat er nichts zu sagen! Alles ist leer.»
Das Schicksal von Petre V. Stefanuca fasst er ohne jede Sentimentalität zusammen:
«Stefanuca war Folklorist. Mit Leidenschaft für sein Bessarabien. Er hat darüber sehr interessante Arbeiten geschrieben. Er war ein bessarabischer nationalistischer Kämpfer und das hat er mit seinem Leben bezahlt. Er wollte Bessarabien nicht verlassen, blieb vor Ort, und die Russen haben ihn liquidiert. Schade.»
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